Dekanat Rodgau

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    Fliehen oder bleiben?

    von Pfarrerin Kornelia Kachunga,
    Evangelische Kirchengemeinde Obertshausen

    Liebe Leserin, lieber Leser!

    „Jeder Mensch hat das Recht zu fliehen“, so sagte neulich jemand zu mir. Dieser Satz erstaunte mich. Hat tatsächlich jeder Mensch das Recht zu fliehen? 

    Der Mensch, der mir das sagte, kannte den Fluchtreflex nur zu gut. Er hatte selbst in einem Land gelebt, wo ein grausamer Bürgerkrieg herrschte. Er ist als heranwachsender Junge Wege entlang gelaufen, die mit Leichen übersät waren. Klar! Aus seiner Sicht, und aus der Sicht der vielen Flüchtlinge aus dem Sudan, Irak oder  Afrika hat natürlich jeder Mensch das Recht, aus einer für ihn unerträglichen Lebenssituation zu fliehen, um sein eigenes Überleben zu sichern.

    Meine Lebensgeschichte hat allerdings einen anderen Satz in mein Herz und Hirn eingebrannt: „Wer glaubt, der flieht nicht!“ (Jesaja 28, 16) Geprägt haben mich meine Eltern, die mit ihrem Mut, ihrer Liebe und ihrem Glauben bewusst in eine schwierige Situation hineingegangen sind, weil sie wussten, sie nehmen diese Herausforderung nicht ohne Gottes Hilfe in Angriff: Mein Vater blieb bewusst in der DDR, nachdem er drei Jahre als politischer Häftling unschuldig im Gefängnis saß und sich danach zum Pfarramt berufen fühlte. Seine Verwandtschaft legte ihm sogar nahe, die DDR zu verlassen. Er tat es nicht. Er blieb, anstatt zu fliehen. Meine Mutter floh zwar mit ihrer Familie kurz vor dem Mauerbau von Brandenburg nach Niedersachsen, aber als sie meinen Vater kennen und lieben lernte, entschied sie sich, zurück in die DDR zu gehen. Ein Schritt, von dem sie viele abhalten wollten. Ich bin froh, dass sie es nicht tat. Sie hat mir und meinen vier Geschwistern eine schöne Kindheit geschenkt, indem sie mir die Kraft vorgelebt hat, auch schwierige Situationen auszuhalten.

    Hat der Mensch nun das Recht zu fliehen, oder gebührt es sich für einen gläubigen Menschen, standhaft zu bleiben und in der größten Herausforderung durchzuhalten?

    Die Bibel kennt beides: die Flucht als Zeichen der Schwäche – wie bei dem Propheten Jona. Aber auch die Flucht als Zeichen der Rettung und Bewahrung – wie bei Maria und Josef, die mit ihrem Neugeborenen nach Ägypten fliehen.

    Auch für uns stellen sich immer wieder Situationen im Leben, wo wir entscheiden müssen: Fliehen oder bleiben? Loslassen oder festhalten? Es kann dabei um eine belastende Ehesituation gehen, um die Pflege für einen nahen Angehörigen oder um den Zeitpunkt des eigenen Todes.

    Sie ahnen es, liebe Leserin, lieber Leser. Ob ein Mensch fliehen darf oder nicht, ob und wie lange er eine belastende Situation aushält oder nicht, liegt immer im Ermessen desjenigen, der sich in der jeweiligen Situation befindet. Unsere Aufgabe als Seelsorgerinnen und Seelsorger kann dann nur sein, gemeinsam mit demjenigen zu prüfen und herauszufinden, was für den jeweiligen Menschen in der jeweiligen Situation das richtige ist. „Darum prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist.“ (Epheser 5, 20) Manchmal bedarf es von außen dann der Ermutigung zum Bleiben und Durchhalten, manchmal aber eben auch der Ermutigung zum Gehen und Loslassen. In jedem Falle aber bedarf es eines offenen Herzens, das bereit ist, nach der jeweiligen Wahrheit zu suchen. 

    Und es bedarf der Demut, sich nicht vorschnell einem Vorurteil hinzugeben, dass den einen als Schwächling hinstellt (den nämlich, der flieht) und den anderen zum Helden stilisiert (den nämlich, der bleibt). 

    Ja, jeder Mensch hat das Recht zu fliehen, wenn für ihn seine Lebenssituation unerträglich wird und das eigene Leben bedroht ist.

    Und ja, wer glaubt, der hat Kraft und Grund, auch belastende und schwer zu ertragende Situationen auszuhalten in dem Wissen, dass er selbst von einem anderen, größeren und mächtigeren gehalten und hindurch getragen wird.

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